Martin Luther (1483-1546) wünschte sich Kirchen, in denen "nichts anders darinne geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang." Das macht einen evangelischen Gottesdienst bis heute aus. Und Luther wollte, dass die Kirche nicht prunkt, "als wäre sie besser denn andere Häuser, wo man Gottes Wort predigt." So ist neben dem Altar die Kanzel das Herzstück eines evangelisch-lutherischen Kirchenraums geworden. Von ihr wird das Wort Gottes verkündet - der Schwerpunkt eines protestantischen Gottesdiensts. Die Frage, wie sich Kanzel und Altar am besten im Kirchenraum positionieren lassen und welchen Grundriss dieser dafür haben muss, trieb protestantische Kirchenbaumeister immer wieder um.
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Gotik als Ideal
Die Antworten auf die Frage fielen und fallen durchaus unterschiedlich aus. Im 19. Jahrhundert versuchten Vertreter der evangelischen Landeskirchen und Architekten die Frage endgültig zu beantworten und verabschiedeten 1861 das "Eisenacher Regulativ". Weil Luther keine neue Kirche, sondern nur die Erneuerung der bestehenden Kirche im Sinn gehabt habe, so die Argumentation, empfahlen sie "nach alter Sitte" einen kreuzförmigen Grundriss mit Chor, erhöhtem Altar gen Osten und Orgelempore im Westen. Ein Stil wie ihn auch die Gotik schon kannte und wie er nun in der Neogotik wieder auflebte. Das Eisenacher Regulativ prägte unzählige Kirchenneubauten. Doch wo lag der Unterschied zu einer katholischen Kirche?
Von der Neogotik zur Wiesbadener Ringkirche
Der Architekt Johannes Otzen (1839-1911) vertrat ein anderes Konzept. Otzens von 1892-94 erbaute Wiesbadener Ringkirche wurde zum Pionierbeispiel des "Wiesbadener Programms", bei dem die Kirche nicht nur Predigtraum sondern auch Versammlungshaus für die Gemeinde ist. Am Ende der aufsteigenden Rheinstrasse entstand ein fast kreisförmiges neoromanisches Ensemble, dessen Fassaden und die beiden 65 Meter hohen Türme den Anstieg am Hügel krönen. Innen liegen Altar, Kanzel, Orgel und Sängerbühne im Zentrum der Ringkirche, um das gut 1200 Sitzplätze kreisförmig angeordnet sind. Der Architekt dieser für damals einzigartigen "Reformationskirche" baute also einen einheitlichen Raum ohne abgetrennten Chor und Seitenschiffe. Außerdem zog Otzen im Gegensatz zum Eisenacher Regulativ Altar und Kanzel gleichwertig an einer Stelle zusammen. Und setzte die Orgel als krönenden Abschluss darüber. Der Innenraum wird von riesigen Fensterrosetten beherrscht. Sie tauchen die Kirche in ein fast mystisches Farbenspiel. Ein Glasfenster in der Decke lässt unter einer aufwendig konstruierten Glaslaterne goldenes Licht von oben einfallen.
Ikone der Kirchenarchitektur - wegweisend bis heute
Die Ringkirche wurde wegweisend für den protestantischen Kirchenbau. Viele Kirchenarchitekten orientieren sich seitdem am "Wiesbadener Programm", das Otzen gemeinsam mit dem Pfarrer Emil Veesenmeyer erarbeitet hat. Und auch Martin Luther hätte sich wahrscheinlich für Otzens Interpretation begeistern können, verkörpert dieses Gotteshaus doch sinnbildlich seine Forderung nach einem "Priestertum aller Gläubigen", nach dem jeder Mensch ohne Vermittlerinstanz mit Gott in Kontakt treten kann.
Seit 2003 wurde die Außenfassade der Ringkirche aufwändig restauriert, da die Zeit erhebliche Spuren hinterlassen hatte. Von 2006-2010 förderte die Deutsche Stiftung Denkmalschutz an dieser Ikone der Kirchenarchitektur die Restaurierung der Fenster und Fassaden - zuletzt die Sanierung der Doppeltürme.
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