Eine Bauanleitung im Fachwerk
Auf den Balken oder in Dachstühlen von historischen Fachwerkhäusern lassen sich eingeritzte oder gekerbte, sogenannte Abbundzeichen entdecken. Sie geben Aufschluss darüber, wie die Zimmerer und Bauhandwerker einst bei der Errichtung des Bauwerks vorgegangen sind. Abbundzeichen tragen zahlreiche Botschaften zur Entschlüsselung der Baugeschichte in sich. Es können römische Ziffern, einzelne Buchstaben, Symbole oder Strichmuster sein. Meist sitzen sie am Ende eines Holzbalkens oder in der Nähe eines Zapfenlochs, also an einer Verbindungsstelle innerhalb der Fachwerkkonstruktion. Diese Markierungen dienten den Zimmerleuten quasi als Montageplan auf der Baustelle.
Dazu muss man sich vergegenwärtigen, wie in Fachwerkhaus errichtet wurde. Alle Bauteile wurden auf einer großen, freien Fläche, dem „Reißboden“ oder „Abbundplatz“ zurechtgesägt und probeweise zusammengesetzt. Mit Hilfe von Messlatten und gespannten Schnüren zeichneten die Handwerker zunächst eine Konstruktionszeichnung im Maßstab 1:1 auf den Boden. Durch direktes Zusammenlegen der Hölzer wurde die Maßhaltigkeit überprüft. Die jeweils zusammengehörigen Bauteile markierte man zum schnellen und sicheren Zuordnen beim späteren Zusammensetzen auf dem eigentlichen Bauplatz mit demselben Zeichen.
Innerhalb dieses Systems hatten Längswände, Querwände und Stockwerke jeweils eigene Kennzeichnungen, etwa einen schrägen Strich oder Dreiecke. Diese Abbundzeichen und ihre zahlreichen Varianten zu entschlüsseln und zu interpretieren, erfordert spezielles Wissen. Ohne dieses lässt sich der historische Holzbau nicht verstehen. Auch nachträglich an eine andere Stelle versetzte Balken, angestückte Elemente, Reparaturen und Austausch sowie spätere Planänderungen lassen sich so identifizieren.