07.04.2011 – Presse

Die Kirchen im Dorf lassen

Werkstatt-Tagung in Marburg beginnt am Donnerstag

Kurzfassung: Schrumpfende Bevölkerungszahlen und leere Gemeindekassen zwingen dazu, sich über eine neue Verwertung nicht mehr sakral genutzter Bauwerke Gedanken zu machen, damit die Kirchen im Dorf bleiben können. Nach wie vor gelten Gotteshäuser auf dem Land im Bewusstsein der Bevölkerung als identitätsstiftend. Lösungen für Dorfkirchen dürften allerdings anders aussehen als für Kirchen im Zentrum großer Städte. Mit der Tagung "Kirchen im Dorf lassen" vom 7. zum 9. April 2011 im Landgrafenschloss und in der Universität in Marburg schaffen die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland ein Forum für die Zukunft ländlicher Kirchen. Unterstützt werden sie vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz und dem Marburger EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, damit Kommunen, Kirchengemeinden, Fördervereine, Denkmalpfleger und Architekten für die von Leerstand bedrohten Dorf- und Kleinstadtkirchen Nutzungs- und Erhaltungsperspektiven erarbeiten können.

Langfassung: Längst kein Tabu mehr: Schrumpfende Bevölkerungszahlen und leere Gemeindekassen bedeuten für immer mehr Kirchen das Aus. Gerade im ländlichen Raum bedeutet das, dass die Kirchen aus den Dörfern verschwinden könnten, auch wenn sich nur wenige dies ernsthaft vorstellen möchten. Nach wie vor stehen die kleinen Gotteshäuser im Bewusstsein der Bevölkerung für Geschichte und Gegenwart der Gemeinde. Sie stellen herausragende religiöse, historische und kulturelle Zeugnisse dar, deren Erhalt nicht zur Disposition gestellt werden darf. Um die Gebäude langfristig erhalten zu können, muss verstärkt über neue Nutzungskonzepte nachgedacht werden. Kommunen und Kirchengemeinden, Fördervereine, Denkmalpfleger und Architekten sind aufgerufen, Lösungen zu finden, die bei Dorfkirchen anders aussehen dürften als bei Kirchen im Zentrum großer Städte.

Eva Kühne-Hörmann, Ministerin für Wissenschaft und Kunst in Hessen, eröffnet am Donnerstag, den 7. April 2011 um 14.00 Uhr im Fürstensaal des Marburger Schlosses die dreitägige Veranstaltung „Kirchen im Dorf lassen“, die im Landgrafenschloss und in der Universität, Lahntor 3 in Marburg stattfindet. Dabei weist die Ministerin nachdrücklich darauf hin, dass die Fragen der Um- oder Weiternutzung von Sakralbauten „nicht allein die Kirchen und ihre Gemeinden“ beschäftigt, sondern „in der breiten Öffentlichkeit kontrovers diskutiert“ wird und dass insbesondere „die ländlichen Kirchen in strukturschwachen Räumen“ Hilfe benötigen. Dr. Rosemarie Wilcken, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD) und Professor Dr. Gerd Weiß, Vorsitzender der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (VdL), begrüßen die Teilnehmer seitens der Ausrichter und betonen, dass wir „nicht zu viele Gebäude, sondern – noch – zu wenig Ideen“ haben. Die DSD fördert sowohl Projekte wie die als Atelier genutzte Brunsteinkapelle in Soest oder die Dorfkirche St. Martha in Niedernhausen im Taunus, heute „ZAK – Zentrum Alte Kirche“, als auch eine Vielzahl sowohl kirchlich wie kulturell genutzter Dorfkirchen, die ohne engagierte Bürgerbeteiligung keine Zukunft hätten.

Mit der Werkstatt-Tagung sollen konkrete Erhaltungsperspektiven für die von Leerstand bedrohten Dorf- und Kleinstadtkirchen erarbeitet werden. Dazu erwarten die Veranstalter einen lebhaften Austausch gerade zu neuen oder erweiterten Nutzungsmöglichkeiten, die zur Belebung der Bauten und zugleich ihrer Gemeinden beitragen und die mit denkmalverträglichen Eingriffen in die Bausubstanz zu erreichen sind. Nach Impulsreferaten geben Werkstatt-Gespräche Raum für Diskussion  aktueller Entwicklungen, Handlungsansätze und Perspektiven, der kontinuierlichen Bauüberwachung, Strategien der (Neu-)Ordnung von Kirchen-Landschaften und kultureller Nutzungserweiterungen. Auswirkungen auf die Architektur werden an konkreten Beispielen thematisiert, Exkursionen zu mittelhessischen Kirchen erweitern den Praxisbezug.

Die Veranstaltung schließt an die Tagung "Kirche leer – was dann?" im thüringischen Mühlhausen an. Die Dokumentation der Vorgängertagung ist gerade in der Reihe "Berichte zu Forschung und Praxis der Denkmalpflege in Deutschland" im Michael Imhof Verlag erschienen, (ISBN 978-3-86568-684-8).

Weitere Informationen zur Tagung und das Veranstaltungsprogramm sind im Internet abrufbar unter www.denkmalschutz.de/termine oder unter www.denkmalpflege-forum.de.

Bonn/Marburg, den 7. April 2011/Schi

Ausführliche Statements zur Pressemeldung

Eva Kühne-Hörmann, Ministerin für Wissenschaft und Kunst in Hessen:

"Als Orientierungspunkte im Stadtbild zeugen Kirchengebäude seit jeher von der Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft. Sie prägen unsere Kulturlandschaft. Ihre jahrhundertealte Geschichte spiegelt die Geschichte des jeweiligen Ortes und seiner Bewohner. Kirchen sind Anziehungspunkte für Touristen, die den besonderen Charakter einer Region vor allem auch über Kirchengebäude und deren Ausstattung kennenlernen wollen. Kirchen sind Orte der Ruhe und der Besinnung, durch die Jahrhunderte hindurch verweisen sie auf eine andere Dimension unseres Daseins. Sie bilden einen wesentlichen Bestandteil unseres kulturellen Erbes, das für nachfolgende Generationen bewahrt werden muss.  

Die Frage ihrer Um- oder Weiternutzung beschäftigt nicht allein die Kirchen und ihre Gemeinden, sondern sie wird in der breiten Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Es sind besonders die ländlichen Kirchen in strukturschwachen Räumen, die besondere Aufmerksamkeit und Hilfe brauchen. In Teilen Nordhessens beispielsweise ist der demografische Wandel schon deutlich spürbar. Ich freue mich deshalb ganz besonders, dass sich diese Tagung in Marburg mit diesem für unsere Gesellschaft so wichtigen Thema beschäftigt. Die Frage der Erhaltung und sinnvollen Weiternutzung von Kirchengebäuden steht am Anfang einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die durch das Zusammenwirken aller Beteiligten – Kirchen, Architekten, Ingenieure, Gemeinden, Denkmalpfleger, Investoren – sinnvoll gelenkt werden muss. Immer wieder ist dabei die Tatsache hervorzuheben, dass die sinnvolle Weiternutzung historischer Gebäude grundsätzlich ressourcenschonend und ökologisch ist.  

Die Denkmalpflege hat schon vielfach wegweisende Umnutzungen begleitet: In Frankfurt am Main etwa hat sich die Jugendkulturkirche St. Peter als kulturelles Zentrum für Jugendliche etabliert. In Niedernhausen wurde die Alte Kirche mit minimalen Eingriffen zu einem kulturellen Veranstaltungsort umgerüstet. Auch im Umland von Marburg gibt es wegweisende Projekte, die zeigen, wie durch minimale bauliche Eingriffe Nutzungsmöglichkeiten erweitert werden können. In allen Fällen haben sich Bürger engagiert, um sich ehrenamtlich für die Rettung „ihrer“ Kirche einzusetzen. Dadurch konnten nicht nur Kirchen vor dem Abriss gerettet werden, sondern es entstanden auch ganz neue soziale Netzwerke. Die Tagung „Kirchen im Dorf lassen“ soll dazu dienen, bestehende Netzwerke zwischen Ehrenamtlichen, Denkmalpflegern, Architekten und Kirchengemeinden weiter auszubauen, damit sie auch in Zukunft tragfähige Instrumente für den Erhalt und die Weiternutzung von Kirchen sind."        

Professor Dr. Gerd Weiß, Vorsitzender der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (VdL):

„Die Umnutzung von Kirchengebäuden ist kein neues Phänomen. In Krisen- oder Umbruchzeiten wurden Gotteshäuser schon immer zu anderen, auch zu profanen Zwecken genutzt. Nur so haben viele von ihnen die Zeiten überdauert. Jede Nutzung, die dem Bauwerk keinen Schaden zufügt, trägt zu seinem dauerhaften Erhalt bei. Umnutzung ist nicht gleich Umnutzung. Gravierende Veränderungen des Kirchenraumes können auch bei bleibender Nutzung nötig werden. Die Gefahr der Übernutzung ist dabei ebenso ernst zu nehmen wie die aus einer Unternutzung resultierenden Beeinträchtigungen. Im Gegenzug gibt es Um- oder Neunutzungen, die den Raum weitgehend unangetastet lassen. Um- oder Neunutzungen bedeuten nicht automatisch eine Beeinträchtigung des Gebäudes. Durch gezielte Maßnahmen kann die Denkmalqualität des Gotteshauses gesichert, seine Raumwirkung sogar gesteigert werden. Oberste Priorität hat die Bewahrung des Charakters eines Kirchengebäudes für nachfolgende Generationen. Dies betrifft sowohl seine Erscheinung im Stadt- oder Ortsbild als auch seine Substanz. Zusätzliche An- oder Einbauten müssen reversibel sein und dürfen den Denkmalwert des Gebäudes nicht beeinträchtigen.  

Dieser Prozess muss durch kluge und umsichtige Mediationsverfahren begleitet und unterstützt werden. Durch gezielte Maßnahmen (z.B. durch die Dokumentation von Best-Practice-Beispielen) soll das öffentliche Bewusstsein für den Wert, die Bedeutung und das Potential dieser Gebäude geweckt und gestärkt werden. Einer neuen Nutzung sollten genaue Untersuchungen der Rahmenbedingungen am konkreten Ort vorausgehen, um Sakralbauten auch in Zukunft mit Hilfe einer durchdachten und gesicherten Nutzung altern lassen zu können. Wir haben nicht zu viele Gebäude, sondern – noch – zu wenig Ideen.“  

Dr. Rosemarie Wilcken, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD):

„Die Gesamtsituation muss man nach regionalen Unterschieden sehr differenziert betrachten. Das Grundproblem allerdings trifft das ganze Land. Die Öffentlichkeit hat dieses Thema in seiner Tragweite noch nicht wahrgenommen. Zum Glück ist aber die Debatte bereits eröffnet. Ein Dialog zwischen Kirche, Staat, Kommunen, Fördervereinen und gesellschaftlich relevanten Gruppen ist zwingend notwendig, nur er kann zu geeigneten Lösungsansätzen führen.

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Wichtig ist, dass uns diese Entwicklung nicht unvorbereitet trifft. Wir stecken in einigen Landstrichen bereits in diesem Transformationsprozeß, der sich voraussichtlich über das gesamte Land erstrecken wird.“