Mit Einkaufstüten beladen, bummeln Passanten den Ku’damm entlang. Straßenmusiker haben ihre Hüte ausgelegt, hoffen auf einen Obolus für ihre musikalische Untermalung eines warmen Tages in Berlin. Ein Sightseeing-Bus nähert sich dem Breitscheidplatz, Köpfe fahren hoch, Kameras klicken. Im Schlepptau einer resoluten Reiseführerin strömt eine Gruppe von Touristen auf ein einzigartiges Denkmal zu. Selfies mit einer Ruine im Hintergrund werden später zigfach im Internet gepostet. Ich war auch hier, sollen sie ausdrücken.
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin mit ihrer Kombination aus Ruinenturm und flankierenden Nachkriegsbauten zählt zu den bekanntesten Denkmalen Deutschlands. Wären die Abrisspläne nach 1945 umgesetzt worden – Berlin wäre heute anders. Aber so wurde die Gedächtniskirche zum Symbol des neuen Zentrums im Westteil der bis 1989 geteilten Stadt, denn das historische Herz Berlins befand sich nach dem Mauerbau im Sowjetischen Sektor. Die Geschichte dieser Kirche berührt alle: vom letzten Kaiser errichtet, dem Krieg mit Mühe getrotzt, heute ein Mahnmal, das die Menschen bewegt.
Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) veranlasste den Bau der Ursprungskirche in Gedenken an seinen gleichnamigen Großvater. 1891 erfolgte die Grundsteinlegung – vier Jahre später wurde die Kirche eingeweiht. Im November 1943 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche weitgehend zerstört. Lediglich die Turmruine und ein Teil des Kirchenschiffs blieben erhalten. Die Besatzungsmächte taten sich schwer mit diesem Symbol des kaiserlichen Deutschlands. 1956 wurde der einsturzgefährdete Chor abgerissen – eine Notmaßnahme. Bis 1957 war der im Berliner Volksmund „Hohler Zahn“ genannte Bau dem Verfall preisgegeben. Im März des gleichen Jahres gewann Egon Eiermann (1904-70) den Architekturwettbewerb zum Neubau der Kirche. Wäre es nach seinem Entwurf gegangen – die Ruine wäre komplett niedergelegt worden. Eine moderne, neue Kirche wollte Eiermann bauen. Abertausende West-Berliner protestierten dagegen, denn der „Hohle Zahn“ war längst zum Wahrzeichen geworden und aus ihrer Stadt und Heimat nicht mehr wegzudenken. Die Diskussion endete mit einem Kompromiss, der sowohl vom Architekten als auch von den Bürgern zunächst widerstrebend akzeptiert wurde. Die 71 Meter hohe Ruine des alten Hauptturms blieb erhalten, umgeben von einem modernen vierteiligen Bauensemble, das die Berliner fortan „Lippenstift und Puderdose“ nannten und schließlich auch ins Herz schlossen.
Die Ruine wurde zu einem Symbol für den Frieden, gleichzeitig war sie aber auch stummer Zeuge des Wirtschaftswunders. Am Ku’damm präsentierte sich das Deutschland der Nachkriegszeit: Cafés wie das Kranzler wurden wieder aufgebaut. An glitzernden Schaufensterfassaden fuhren schicke Autos vorbei. Ende der 1950er Jahre waren in Berlin viele Reste des schrecklichen Krieges verschwunden. Nur der Ruinenturm mit seinem charakteristisch eingestürzten Dach besteht bis heute – als Gedächtnis der Stadt, als Anknüpfungspunkt an das davor und damit als imposantes Mahnmal gegen einen Krieg, den es nie mehr geben darf.
Heute gilt eben dieses Ensemble aus Ruine und Egon Eiermanns klaren, modernen Bauten aus den 1950er Jahren als herausragendes Zeugnis der Nachkriegsmoderne — ein Sinnbild des deutschen Aufbauwillens. Mehr noch — die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche steht für das alte, das zerstörte und das wiederauferstandene, geläuterte Deutschland. Ein Symbol, das ohne den vielstimmigen Widerstand gegen den Abriss, so nicht existieren würde. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zeigt, wie ein Denkmal zum Inbegriff und Kristallisationspunkt von Heimat werden kann - und dass es sich lohnt, sich für sie einzusetzen.
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